Eines Tages waren die Rüben reif. Judith sollte sie aus der fetten schwarzen Erde ziehen, und in die Küche bringen. Sie war gerade einmal sieben Jahre alt geworden. Ein verträumt stilles Kind, das früh begonnen hatte, sich und das unendliche Universum in sich zu entdecken. Was gab es da nicht alles an Erstaunlichem, Bedrohlichem und Abgründigem, das sich ihr lustvoll offenbarte und sich bei jedem diesen Welten gewidmeten Gedanken zu einem überraschenden Kribbeln zwischen den Lenden und in der Nasenwurzel bis zum Schwinden der Sinne steigerte. Eine Welt der Wunder, dachte Judith und lächelte. Und alles griffbereit in ihr selbst reichlich vorhanden. Immer öfter schloss sie die Augen, um der Außenwelt die Gelegenheit zu verwehren, das Weben und Wirken tief in sich zu stören, um ja dieses Wunder rein, jungfräulich und keusch bis zum Höhepunkt einer Verzückung geraten zu lassen, die alle Grenzen des bis dato Vorstellbaren sprengte, und nach deren Ende sie in eine leichte Ermattung aus ihrem Leben hinaus in andere Sphären hinüberglitt.
Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, der Sommer hatte sich im ganzen Tal längst heimisch gemacht. Kein Windhauch rührte sich, als sie den kleinen Park durchquerte, an dessen Ende die Obstbäume standen, und sich dahinter der Gemüsegarten mit den langen Rabatten erstreckte. Judith roch das taufrische Gras, an dem die Sonnenstrahlen leckten und schloss die Augen. Da geschah es eben, dass sie die kleine Steinumfassung nicht bemerkte, die den Ziergarten vom Gemüsegarten trennte. Das verheißungsvolle Kribbeln in der Nasenwurzel hatte sich wieder eingestellt. Sie schlug der Länge nach hin. Ihr Gesicht bohrte sich in den Boden und dunkle Erde und drang in den vor Schrecken geöffneten Mund. Das Knie schmerzte. Ein spitzer Dorn bohrte sich in ihren Unterbauch, und bevor sie das Bewusstsein verlor, sah sie den grauen Hund des Nachbarn riesenhaft vor sich hocken, die Zunge herausgestreckt und die Lefzen zu einem teuflischen Grinsen nach hinten gezogen.
Es war die Zeit, in der sich die katholische Kirche die Menschen zurückfing. Aber die Unschuld des Glaubens war ein für alle Mal verloren gegangen. Skepsis und Zweifel hatten die Menschen vergiftet, die nur mehr von der starken Hand eifernder Kirchenfürsten in Zaum gehalten werden konnten. Ein weiterer Hugenottenkrieg hatte in Frankreich seine Spuren hinterlassen. Kardinal Richelieu erklärte, kaum Widerspruch duldend, seinem König und dem Volke, wie ein Staat zu regieren sei. Ein Jahr nach dem denkwürdigen Ereignis im Gemüsegarten der Nordbergs tritt Heinrich IV. von Navarra, einst Leitfigur der Hugenotten, zum Katholizismus über.
Judith Haßdenteufel war eine andere geworden. Sie verließ das elterliche Haus nur noch selten und verwehrte der Sonne, Gesicht und Körper mit ihren wärmenden Strahlen zu berühren. Ihr Leben lang sollte sie den bitteren Geschmack der feuchten Erde, die einst ihre Mundhöhle füllte, nicht mehr loswerden. Der grausame und schmerzhafte Fall prägte von nun an ihr Leben. Sie aß auch keine Rüben mehr. Stets, wenn sie ihre unablässig nässelnde Wunde streichelte, erschien ihr vor dem inneren Auge jener grinsende graue Hund und sie spürte seinen heißen Atem über sich.
Von nun an hegte und schütze sie ihren Schmerz vor den Bedrohungen der feindlichen Welt wie einen Hort, rieb ihr Knie mit Geiersalbe ein und gewöhnte sich allmählich daran, mit offenen Augen zu träumen und Gärten zu meiden. Trotz massivem Widerstand gelang es ihren Eltern, Judith mit dem angesehenen Apotheker Jakob Nordberg zu verheiraten. Dieser hatte sich auf die Behandlung von steifen Kniegelenken spezialisiert, und hatte es zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht. Die Verbindung dauerte keine drei Tage und man sagte, sie sei nie vollzogen worden. Als Zwanzigjährige flüchtete sie ins Kloster zu den Drei Geißeln des Herrn, wo sie seelenverwandte Mitschwestern fand, die sich, gleichfalls von der Welt enttäuscht, gegenseitig bei der Behandlung ihrer Wunden halfen. Judith Haßdenteufel- Nordberg starb 1661 mit einem Lächeln auf den, auch zu Lebzeiten stets geöffneten Lippen. Als sie die Augen für immer schloss, saß vor ihrem Zellenfenster ein alter, grauer Hund mit einer Rübe zwischen den Zähnen.