Zum Kern einer Sache vordringen, auf das Wesentliche zielen, zum Ursprung zurück greifen, heißt doch auf den ersten Blick hin, von ihm Ausgegangenes übersehen dürfen, ausgrenzen weil ein Zentrum angenommen wird, in dem alles komprimiert – in nuce – aufbereitet zur Konsumation bereit liegt.
Als wäre im Kern alles schon gesagt. Bevor die Frage formuliert wird, ist schon eine Vorstellung, wie das Komprimierte aussehen kann, vorhanden. Dann keimt aus dem imaginierten Kern eine vage Vorstellung von dem Mittelpunkt auf mich zu, und während ich mich auf ihn konzentriere, mich ihm nähere, eine Vorstellung entwickle, die ich dann auch in Begriffe fassen möchte, ihm mich bestätigend annähere, wird das Umfeld, das Fruchtfleisch uninteressant. Immer das Zentrum vor Augen, achte ich nicht auf den Geschmack der saftigen Nektarine, des Pfirsichs, der Marille, der Zwetschke. Scheinbar Nebensächliches wird ausgeklammert. Das Beiläufige, Leichtfüßige hat seinen Stellenwert verloren. Es sinniert sich nicht mehr so leicht vor sich hin. Alles hat Zielpunkte. Punktum.
Das Abschweifen wird, bewusst oder unbewusst aus unbekannten Regionen des eigenen Denkens auftauchend, als Irrtum und Irrweg, als entbehrlich tunlichst hintangestellt. Das Sinnieren ist aus der Mode gekommen, und damit die temporäre Ignoranz vorgelegter Zielrichtungen. „Ständig suche ich Abwechslung, ungestüm und auf gut Glück. Mein Stil vagabundiert genau so herum wie mein Geist. Besser eine Spur Tollheit, als ein Zuviel an Dummheit.“ Montaigne bekannte sich noch zu dieser kreativen Zerstreuung in einem seiner Essais. Absichtslos schweift der Geist und landet nicht selten in der Tollheit, dieser Befreiung von allen auferlegten Sachbezügen, die auch mich nicht selten wieder einholen. Auf Zerstreuung folgt Fokusierung und Konzentration.
Alles Zusammenfassen ist mir wenig beglückende Einschränkung, und es möchte doch das Umfassende sein, letztendliche Gültigkeit besitzen und abschließend alles Sag- oder Schreibbare in sich geordnet aufgelistet haben. Jeder Gedanke, bevor ich ihm noch habhaft werden konnte, besitzt in sich eine Unzahl an Möglichkeiten, die alle ausgeklammert werden, wenn er einmal gefasst wurde. Dann hat sich die Vielfalt zur leichter nachvollziehbaren Einfalt verengt. Sie hat zwar substantiell verloren, erscheint aber in der Reduktion umgänglicher und verdaubarer. Nun können alle in den Kanon einstimmen, den gemeinsamen Nennern eigene Namen geben, beitragen, zutragen, zustimmen, beipflichten. Das Minimum hat seinen Siegeszug angetreten.
Wo ist die Spur Tollheit, die wagemutig ein Zuviel an Dummheit ersetzten soll? Dummheit, dieses Eingeständnis der Einschränkung, diese selbstauferlegte geistige Fastenkur. Sollte es Beschränkung heißen? Die Dummheit allein klammert aus was ihr fremd und einem wohlgelittenen System unzuträglich erscheint. Sie ist die Reduktion auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die anderes nicht mehr neben sich erlaubt.
Alles Unzulängliche und Unwesentliche bleibt draußen. Wir, oder etwas in uns hat die Wahl getroffen. Gerade aber diese beiden Uns verfügen über eine besondere Mannigfaltigkeit, die in verschiedenste Richtungen Wege offen lässt. Wenn sich Eindeutigkeit aufzulösen beginnt, wenn Sicherheit versprechende Gültigkeit für viele nicht mehr erfahrbar ist, dann beginnen wir vielleicht Hofmannsthals Lord Chandos zu verstehen, dem die Welt in zusammenhanglose Einzelteile zerfallen ist, der in seiner Zeit nichts Verbindendes mehr gefunden hat. Lord Chandos´ Zeit ist unsere Zeit. Von den Einzelheiten geht eine Faszination aus, die keine Verbindung, keine Verbindlichkeit benötigt. Schreiben heißt für mich, die Scherben nach dem Zersplittern des vielleicht einmal Wertvollen zum Glitzern zu bringen. Schriftsteller und Dichter lassen es funkeln oder legen ihren Schatten der Bedeutsamkeit über die vereinzelten Restbestände. Lösungen sollen sie nicht anbieten, auch wenn gute Ratschläge von vielen gerne gelesen werden. Sie sollen und können es nicht, sie konnten es seit jeher nicht.
Warum nicht das absichtslose Schauen versuchen und darüber erzählen, wie es einem so geht in einem Wolkenkuckucksheim? Die Sehnsucht nach Wertvollem, das Bedauern seines Verschwindens, kann den Prozess seines Verschwindens nicht aufhalten. Kann sein, dass wir von dieser Traurigkeit berichten.
Aber dann mit Tollheit. Sie ist fröhlicher als es eine Analyse des Jammertales je sein kann. Richtig platziert ist sie allemal in der Lage jene Höhle bengalisch zu illuminieren, in der wir alle die Finsternis bedauert haben, oder von einem Licht träumten, von dem wir in unserer umfangreichen Nachdenklichkeit gelesen oder gehört haben. Humor ist immer noch jener Funken, der eine befreiende Tollheit zur Explosion bringen kann. Diesen Moment gilt es nicht zu verpassen. Jedem sollte man dankbar sein, der einen an diesen seltenen Gelegenheiten teilnehmen lässt.
Bringt er etwas? Verhindert er Unwesen und Unzulänglichkeiten? Manche Literaten hängen einem nicht wiederherstellbaren Vergangenen nach und bedauern diesen Zustand. Andere glauben ein definitives Ende erkennen zu müssen. „Na klar, weil alles immer am Ende ist.“, sagt Franz Schuh in einem Interview. „Aber so lange, bis es wirklich aus ist, muss das Ende noch zelebriert – ausgelebt – werden.“ Für viele hat sich ´s ausgelebt- Wer von all dem nichts mitbekommt, feiert die Unvergleichbarkeit seiner Individualität, oder spielt nur aus Freude am Spiel.
Wer erinnert sich nicht an eine Zeit, in der man sich weit unter dem eigenen Niveau am Klimpern, Blinken und Tscheppern der Flipperautomaten erfreute? Bunt und bewegt ging es allemal zu. Es rasselten noch mechanisch Zahlenreihen über die analogen Anzeiger. Manchmal winkte ein Freispiel. Vielmehr vermögen uns Internet und soziale Medien auch nicht zu bieten. Das Wie hat das Was ersetzt. Die Methode, das Vehikel bestimmt die Richtung. Und am Ende, das nie ein endgültiges Ende ist, steht der krampfhafte Versuch, wenigstens eine Formel von den Inhalten (fast wollte ich Werte schreiben) suchen und sich auf einen gemeinsamen Kern einigen zu dürfen, der ein Minimum am Konsens zur Beruhigung der Gemüter beinhaltet.
Liegt es in der Unnatur des Menschen, dass wir es nicht ermöglichen die eigene Unzulänglichkeit und das Unwesen der eigenen Gegenwart zu bannen? Immer schon so gewesen, oder wie? Immer schon zurückgeworfen auf das eigene Ich? Möglich, dass darin eine Alternative liegt.
Im 16. Jahrhundert formulierte Montaigne die von mir angedachte Problematik ohne schulmeisterliche Attitüde, in einem Ausspruch, der zum Widerstand verleiten sollte: „Blickt in euch, erkennt euch, gebt euch eignen Halt. Führt euren Geist und euren Willen, die sich anderswo verzehren, zu sich zurück! Ihr verzettelt, ihr verausgabt euch. Sammelt euch, haltet stand: Man lenkt euch von euch ab, man betrügt euch, man beraubt euch eures Selbst.“
Der Widerstand wird ein persönlicher sein, die Negation eine produktive, die zu neuen Ansätzen führt. Der Raubzug soll geahndet werden. Das Unzulängliche wird in mir selbst aufgespürt, über die Tollheit ausgelebt und ausgelacht. – Schön wär´s.